Schallplatte mit Volker Rebell Beschriftung

Texte

Auf dieser Seite folgen nach und nach Texte, Beiträge, Artikel, die irgendwo veröffentlicht wurden, oder einfach so aus Lust und Laune von mir geschrieben wurden.

"Hundertwasser", Einführende Worte zur Vernissage am 24.11.11 in der Galerie am Dom, Wetzlar

"Mani Neumeier", Vorwort zum Mediabook "Werkausgabe"

"IMAGINE John Lennon", Interview zur gleichnamigen Tour

"Faszinosum Open Air", Beitrag für die Deutsche Welle

"Frank Zappa", Ausschnitt aus Rock-Session 1

"Diamonds - an orchstral tribute to the the Beatles" - Linernotes zur DVD/CD der Beatles Revival Band

"Mutter Marias weise Worte" - Anmerkungen zum Song "Let It Be" (Artikel für eclipsed)

"Das Walross, Ahnherr des Artrock?" - Artikel für das Rock-Magazin eclipsed

"Das musikalische Weißbuch der Sixties" - Anmerkungen zum Weißen Album der Beatles (Artikel für das Rock-Magazin eclipsed)

"Variationen über die Liebe"

Hundertwasser "Einführende Worte" zur Vernissage der Hundertwasser-Ausstellung in Wetzlar am 24.11.11:

„Natur ist schön, Kunst ist schön. Beides gehört zusammen" - dieses Zitat von Friedensreich Hundertwasser sagt im Grunde schon alles. Eigentlich könnte ich Ihnen jetzt noch einen schönen Abend wünschen und darauf hinweisen, dass die Bilder für sich sprechen und genau dies vermitteln: „Natur ist schön, Kunst ist schön. Beides gehört zusammen." Aber, das wäre dann doch etwas zu kurz gegriffen, zu oberflächlich betrachtet und würde dem Künstler Hundertwasser und seinen vielschichtigen Gemälden nicht gerecht werden - auch nicht seinem Begriff von Schönheit. Was für die meisten von uns der Inbegriff von schönem Wetter ist: ein sonnendurchfluteter strahlendblauer Himmel, das galt für Hundertwasser nicht. Für ihn war ein Regentag sehr viel schöner als ein sonniger. „Jeder Regentropfen ist ein Kuss vom Himmel", lautet ein bekanntes Zitat von ihm.

Im Film „Hundertwasser Regentag" von Peter Schamoni aus dem Jahre 1972 sieht man Hundertwasser mit einem geöffneten Regenschirm im Nieselregen spazieren gehen. Und dazu hört man seine Stimme dies sagen:

„An einem Regentag beginnen die Farben zu leuchten. Wo die Sonne auftaucht, da gibt es nur noch Licht und Schatten, schwarz und weiß. So schön die Farben bei Regen sind, sobald die Sonne scheint, verschwinden die Farben, es gibt dann nur noch Kontraste. Ein trüber Tag, ein Regentag ist für mich der schönste Tag. Das ist ein Tag an dem ich arbeiten kann. Wenn es regnet, bin ich glücklich. Wenn es regnet, weiß ich, dass mein Tag beginnt." In seinen letzten Lebensjahren nannte er sich bezeichnenderweise Friedensreich Regentag Dunkelbunt Hundertwasser.

Wie könnte es auch anders sein. Hundertwasser liebt Wasser: Regentropfen, Tränen, Wasser im Meer, in den Flüssen, in den Seen, Wasser, das vom Himmel fällt, Wasser, das aus den Augen fließt.

Das Wasser hat ihn immer magisch angezogen. Im Wasser findet er eine Zuflucht, einen Fluchtweg, der ihm offen bleibt, wie er es selbst formuliert hat. Deshalb ließ er sich Ende der sechziger Jahre auf einer Werft in Sizilien ein altes Schifferboot, ein Holzschiff nach seinen Vorstellungen umbauen. Er nannte das Schiff „Regentag" und umsegelte damit den halben Globus. Mehrere Jahre lebte und malte er auf seinem Schiff. 1975 überquerte er den Atlantik, segelte durch das Karibische Meer und den Panamakanal bis in den Pazifik. Im folgenden Jahr segelte er mit der „Regentag" von Tahiti über Rarotonga nach Neuseeland - was später dann auch seine Wahlheimat werden sollte.

In seiner Malerei spiegelt sich seine Liebe zum Wasser und zum Meer auf verschiedene Weise. Neben den Motiven Welle und Boot finden sich in seinen Bildern immer wieder Tropfen: Wassertropfen, Regentropfen, Tränen. Merkwürdig auch, dass er auf hoher See starb, an Bord der Queen Elizabeth 2, auf der Reise von Neuseeland nach Europa. Mitten auf dem Pazifischen Ozean war er am 19. Februar 2000 im Alter von 72 Jahren an Herzversagen gestorben.

Auf seinen Bootsreisen mit dem Schiff „Regentag" begleiteten ihn immer - wie er selbst sagte - ein kleiner schwarzer Hund und eine kleine schwarze Katze und außerdem wünschte er sich dazu noch einen schwarzen Raben. Warum schwarz, wurde er gefragt; „weil schwarz die schönste Farbe ist," sagte er wörtlich. Er, der doch gerade berühmt wurde wegen der Farbenpracht seiner Bilder, sagt, schwarz sei die schönste Farbe. Da würden ihm die Gruftis und Gothic-Fans sicher zustimmen, auch die Existenzialisten mit ihren schwarzen Rollis; aber wir „Normalos", die seine farbige Kunst schätzen und bewundern, sind doch eher verwundert, wenn wir den Meister sagen hören, schwarz sei die schönste Farbe. Die Farbe der Trauer, der Beerdigungsanzeigen, des Todes, das sei die schönste Farbe? Aber hat er nicht den Satz geprägt: „Zum Lebendigsein gehören Farben!" Und auch dieser Satz stammt von ihm: „Buntheit, Abwechslung und Vielfalt sind sicherlich besser als das Grau, das Durchschnittsgrau." OK, Grau, auch das triste Durchschnittsgrau ist nicht Schwarz, aber doch vielleicht eine Vorstufe davon?

Als farbenfroh, farbkräftig wird seine Malerei üblicherweise charakterisiert. Und natürlich spielen Farben in seiner Malerei durchgängig eine große Rolle. Aber, wenn man genau hinschaut, sieht man auch sehr viel Schwarz. Schwarze Linien, schwarze Motiv-Umrandungen, schwarze Flächen. Und ist da nicht neben der farbigen Leuchtkraft und Fröhlichkeit auch Melancholie und Traurigkeit? Die Gesichter, die er in etliche seiner Bilder hineingemalt hat, schauen in der Regel ernst, jedenfalls lächeln sie nicht. Und doch reagieren die meisten Betrachter auf ein Bild von Hundertwasser mit einem versonnenen Lächeln. Woran liegt's? Natürlich wirken die meisten Bilder durch die kraftvollen Farben sehr lebendig, wodurch beim Betrachter unwillkürlich eine positive Reaktion ausgelöst wird, je nach Temperament reicht das von einem kleinen Wohlgefühl bis zu großer Freude. Durch die Verwendung von Gold und Silber wirken manche der Bilder geradezu märchenhaft verzaubernd - und genauso verzaubert fühlt sich dann auch ein Betrachter, der sich noch seine Kinderseele bewahren konnte. Die Formen, Farben und Motive seiner Bilder sind kreativ-verspielt, fast kindlich naiv oder traumverloren mit Zwiebeltürmen, Klecksen. Kreisen, Kringeln, Spiralen, Augen, Hüten, schiefen Häusern, wackligen Linien und überall Rundungen, nirgendwo gerade Linien. Das Lineal war dem Künstler Hundertwasser ein Graus. Er verstieg sich gar zu Aussagen wie: „Das Lineal ist das Symbol des neuen Analphabetentums. Das Lineal ist das Symptom der neuen Krankheit des Zerfalls. Die gerade Linie ist gottlos und unmoralisch". - „Wir leben in einem Chaos der geraden Linie." - „Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit." - dies alles sagte er wörtlich. Er vertrat die These: Die gerade Linie komme in der Natur nicht vor und sie mache krank, wenn ein Mensch ständig ihrem optischen Reiz ausgesetzt sei.

Sein Gegenentwurf war die lebendig und natürlich gekrümmte Linie und die Spirale. Kein anderes Symbol taucht so häufig in seiner Malerei auf. Die Spirale symbolisiert für ihn den Beginn des Lebens. Und steht gleichzeitig auch für den Übergang zum Tod. Die Spirale weist hinaus ins Universum als kosmischer Nebel, als Galaxie. Dort, wo die tote Materie in etwas Lebendiges übergeht, dort beginnt für ihn die Spirale. Seine Spirale sei aber keine geometrische, sondern eine biologische, sagte er, sie habe nichts mit einem Zirkel zu tun, sondern lebe von Ausbuchtungen, werde mal dünner, mal dicker, fließe um Widerstände herum, die sich ihr in den Weg stellen.

Er selbst sagte: „Die Spirale ist nie vollkommen oder vollendet. Die Spirale lässt sich nach innen gewendet und nach außen führend lesen: ... nach innen gewendet gleicht sie dem Schneckenhaus, in das sich der Künstler gern verkriechen möchte, nach außen führend steht sie für die Verbindung zur Außenwelt."

Mit der Spirale greift er bewusst ein archaisches und magisches Symbol auf.

„In allen bildlichen Überlieferungen alter Zivilisationen rund um den Planeten trifft man auf das Motiv der Spirale. Man findet es in Felszeichnungen amerikanischer Ureinwohner, im Keramikhandwerk aus dem alten Rom, in Bildern der australischen Aborigines, indischen Mandalas, keltischen Symbolen und islamischer Ornamentik." Die Spirale als ein universelles Symbol tauchte in allen Kulturen auf, vom Schmuck und den Tatoos der polynesischen Maori's, über Motive bei den Inkas, bis hin zu Zeugnissen aus der Mittelsteinzeit. 

Auch ein weiteres, in seiner Malerei oft zu findendes Symbol, das Auge, geht zurück auf früheste Darstellungen in der Menschheitsgeschichte. Aber er malt kein singuläres, kein göttliches Auge der Vorsehung. Hundertwasser malt Mandelaugen - und - immer als Augenpaar. Den Betrachter schauen diese Augen sinnend an, wissend und scheinbar beobachtend. Wenn Augen die Fenster zur Seele sind, dann gleichen die Augen in den Bildern von Hundertwasser neutralen Öffnungen, die einen Blick in die Innenwelt ermöglichen, die Innenwelt des Bildes wie des Betrachters.

Als weiteres Charakteristikum in Hundertwassers Bildern fallen die vielen Fenster auf. Sie stellen für ihn die Verbindung zur Außenwelt dar. Fenster sind die Augen der Häuser. Keines seiner Fenster und fensterähnlichen Rechtecke ist mit dem rechten Winkel gezeichnet. Als Kind des zweiten Weltkriegs assoziierte er mit dem Rechteck die Bedrohung durch Militärkolonnen, die im Karree aufmarschierten. Die Nazi-Bataillone sind für ihn - Zitat - in „geometrische Rechtecke gepresstes" Unheil. Seine immer leicht schief geratenen Rechtecke sind individuell gestaltete Seh-Fenster, als Öffnung für den freien Blick hinaus in die Welt.

Seine Ablehnung gegenüber der „Geometrisierung des Menschen" zeigt sich überdeutlich auch in seiner Architektur. Keines seiner Fenster gleicht dem anderen. Keines seiner Häuser und Bauwerke, die er entwarf, hat etwas mit herkömmlicher Architektur zu tun. Überspitzt gesagt, wirken Hundertwassers Häuser neben den üblichen Mietskasernen und Wohnsilos wie exotische Märchenschlösser aus tausendundeinem Traum. Wie schon seine Malerei strahlt auch seine Architektur Lebendigkeit, Fantasie und Farbenfreude aus. Man sieht Zwiebeltürmchen, goldene Kuppeln, farbige Säulen, übergrünte Dächer und baumbestandene Terrassen. Die schiefen Fassaden sind übersät von bunt eingefassten Fenstern der unterschiedlichsten Größe und Form. Diese lebendige, den Menschen zugewandte Architektur, die den Bedürfnissen nach Schönheit und Fantasie nachkommt, strotzt geradezu vor ästhetischen Reizen, malerischem Reichtum und einer Ideenvielfalt, die sich jeder Normierung entzieht und widersetzt. Alleine bei der Gestaltung der Säulen bewies Hundertwasser eine schier unerschöpfliche Fantasie. Er schuf Säulen, die prachtvoll ausschauen und wundersam anmuten - mal wie ein ausgeflippter Totempfahl, mal wie der kultische Schmuckbaum einer Hippiekommune oder wie die Siegessäule eines Märchenprinzen aus Fantasien. Mit satten Farben bunt bemalt, gleichen die Hundertwasser-Säulen Skulpturen der Lebensfreude. Oft sind die Säulen unterteilt in bauchige Wülste, schlanke Ständer, gedrungene Sockel, satte Ringe, mal schmal und zierlich übereinander geschichtet, mal ausufernd fett wie Hüftgold, dazu gibt es verspielte Kapitelle und womöglich noch eine güldene Kugel obendrauf - dies alles verziert mit farbiger Keramik, mit Mosaiken aus Bruchstücken von Fliesen und Kacheln, versetzt mit silbrig glitzerndem Metall und glänzendem Perlmutt.

Ecken, scharfe Kanten und gerade Linien sind in seinen Bauwerken nicht zu finden - auch keinerlei Vereinheitlichung der Formen, keine Anpassung an irgendein Farben-Dogma - und erst recht gibt es keine ständige Wiederholung von normierten Elementen wie Fenstergrößen, Balkonen etc..

Er attackierte schon früh die herkömmliche Einheits-Architektur und polemisierte, es sei an der Zeit, - Zitat - „dass die Leute selbst dagegen revoltieren, dass man sie in Schachtelkonstruktionen setzt, so wie die Hendeln und die Hasen in Käfigkonstruktionen, die ihnen wesensfremd sind." Seine Thesen waren radikal und manchmal auch überzogen. Zitat:

„Die Repetition immer gleicher Fenster nebeneinander und übereinander wie im Rastersystem ist ein Merkmal der Konzentrationslager. In den neuen Gebäuden der Satellitenstädte und in den neuen Verwaltungsgebäuden, Banken, Spitälern, Schulen etc. ist die Nivellierung der Fenster unerträglich. Das Individuum, der einzelne, immer andersgeartete Mensch wehrt sich gegen diese gleichmachenwollende Diktatur passiv und aktiv je nach Konstitution: mit Alkohol und Drogensucht, Stadtflucht, Putzwahn, Fernsehabhängigkeit, unerklärlichen körperlichen Beschwerden, Allergien, Depressionen bis zum Selbstmord oder aber mit Aggression, Vandalismus und Verbrechen." In seinem sogenannten „Verschimmelungs-Manifest" von 1958, in dem er ernsthaft den Schimmel in Wohnungen als Rückkehr der Natur in eine sterile und lebensfeindliche Umgebung pries und in dem er die Benutzung des Lineals in der Architektur als „verbrecherisch" anprangerte, verstieg er sich zu extremen Positionen. Zitat:

„Man soll den Baugelüsten des einzelnen keine Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können und bauen müssen und so die wirkliche Verantwortung tragen für die vier Wände, in denen er wohnt. Und man muss das Risiko mit in Kauf nehmen, dass so ein tolles Gebilde nachher zusammenfällt, und man soll und darf sich vor Menschenopfern nicht scheuen, die diese neue Bauweise erfordert." Haben wir da richtig gehört und gelesen? Hat der Gutmensch, Natur- und Menschenfreund Hundertwasser tatsächlich geschrieben, man dürfe und solle sich vor Menschenopfern nicht scheuen? Das hat er tatsächlich.

Kann man das als Ausdruck seiner Sturm- und Drangzeit, oder als „Jugendsünde" relativieren? Als er sein „Verschimmelungs-Manifest" gegen den Rationalismus in der Architektur schrieb, war er immerhin schon 30 Jahre alt. Wie ist die Rigorosität mancher seiner Ansichten und Proklamationen zu verstehen? Er war 10 Jahre alt, als die deutschen Wehrmachtssoldaten in Österreich einmarschierten und Nazi-Deutschland das Alpenland „Heim ins Reich" holte. Seine Mutter war Jüdin und konnte den Holocaust nur überleben, weil ihr Mann Arier war. Die Familie der Mutter wurde von den Nazis komplett ausgelöscht. Er war 11 Jahre alt, als der zweite Weltkrieg ausbrach.  In der Malerei und Architektur des erwachsenen Hundertwasser taucht als Gestaltungselement das Bild vom Maulwurf und vom Maulwurfshügel auf. Er selbst sagte dazu: „Ich wäre gerne ein Maulwurf (...) würde gern unter der Erde leben (...) wenn wieder Panzer anrollen, wäre ich geschützt in meiner Höhle." Später entwarf er Häuser, die sich wie Maulwurfshügel aus der Erde herauswölben. Nach all dem, was er als Kind erlebt hatte, wird nur zu verständlich, dass der Mensch Hundertwasser Schutz brauchte und Zuflucht. Die Natur und seine Kunst konnten ihm dies geben, die Menschen offenbar nicht.

Seine frühen Kinderängste vor den im zackigen Rechteck aufmarschierenden Militär-Batallionen, vor den im Gleichschritt einrückenden SS-Kolonnen, vor den Panzern, diesen rechteckigen, kastenförmigen Todesmaschinen mit einem Kanonenrohr, das wie mit dem Lineal gezogen aus der Maschine herausragt und seine todbringende Ladung auf das Ziel abfeuert, seine Ängste vor den uniformierten Nazis, die seine Mutter drangsalierten und deren Familie ermordeten, dies alles musste sein Menschenbild beeinflussen und musste Spuren in seiner Kunst hinterlassen, etwa in der Ablehnung der Uniformität, der zackigen Rechtwinkligkeit und der geraden Linie.

Und die latente Melancholie, die Traurigkeit der Tränen in seinen Bildern hat sicher mit dem Schicksal seiner Familie zu tun. Wie könnte eine Kinderseele unter solchen Erlebnissen nicht gelitten haben. Und wie könnten die Regentropfen nicht nur tröstende Küsse, sondern auch Tränen des Himmels sein.

„On and on the rain will fall like tears from a star, on and on the rain will say, how fragile we are", hat Sting gesungen.

Die Radikalität mancher der frühen, so gar nicht friedensreichen Texte von Hundertwasser erklärt sich natürlich auch aus der Zeit und dem aufbegehrenden Zeitgeist in den sechziger Jahren, aus der Rebellion gegen die verkrustete Gesellschaft, in der die Altnazis in der Schule, Universität, Politik und Justiz immer noch das Sagen hatten.

Knapp 40 war Hundertwasser, als er 1967 seine berühmte Nacktrede gegen inhumane Umweltformen und sterile Architektur hielt. Er entwickelte seine Philosophie von den drei Häuten des Menschen, drei Schichten, die ihn umgeben, schützen und gedeihen lassen. Die erste ist seine natürliche Haut, die Hundertwasser konsequenterweise nackt zur Schau stellte. Die zweite Haut ist die Kleidung und die dritte ist sein Haus.

Für ihn persönlich war die natürliche, nackte Haut die ursprüngliche Haut seiner Kindheit. Er fühlte sich als Kind oft einsam und isoliert. Die natürliche Haut war das existenzielle, das einzige, was er hatte und der einzige Schutz. Die natürliche Haut als eine Art Rüstung, wenn auch fragil, hinter die er sich zurückziehen konnte. Wegen der früh erfahrenen Grausamkeit der Nazis und des Krieges musste er sich, um zu überleben, mit psychologischen Schutzbarrieren umgeben. Er brauchte eine Alternative, eine Gegenwelt und fand sie in seiner Kunst, in den Visionen von einer besseren Welt, die er in seinen Bildern entwarf und später auch in seiner Architektur.

Über die zweite Haut, die Kleidung, sprach er von den drei Haupt-Übeln: 1. die Uniformität, 2. die Symmetrie der Schnitte und 3. die Tyrannei der Mode. Er begann seine eigene Kleidung selbst herzustellen, nähte Hosen, Hemden und Socken aus unterschiedlichen Stoffen und fertigte sich seine eigenen Schuhe an. Grundsätzlich trug er verschieden farbige Socken und bügelte seine Kleidung aus Prinzip nie. Er entwarf und schneiderte sich eine Schirmmütze aus bunten Stoffresten und trug sie lange Jahre fast immer - selbst wenn er nackt malte, nackt segelte und nackt zuhause seine Zeit verbrachte..

Die dritte Haut, das Haus des Menschen, bietet Schutz und Raum zum Leben und muss deshalb das Wohlgefühl und die Lebendigkeit des Bewohners unterstützen. Hundertwasser war allerdings der Auffassung, dass sich der Mensch in seiner dritten Haut nicht wohlfühlen kann, wenn die Architektur der dritten Haut nicht den Bedürfnissen des Bewohners dient, sondern den Bedürfnissen einer Wohnbaugesellschaft, einer Stadt oder gar dem Einkommen eines einfallslosen Architekten. Hundertwasser war davon überzeugt, dass die Käfighaltung der modernen Wohnsiedlungen den Menschen schädigt. Also entwickelte er eine humanistische und natürliche Architektur, die nur dem Wohle des Bewohners verpflichtet ist. Jede Wohneinheit ist in seinen Entwürfen individuell gestaltet, jede hat ihr eigenes Farbkonzept, möglicht viele Fenster, jedes einzelne ein Unikat. Terrassen und Dächer sich begrünt. Die Balkone werden mit sogenannten Baummietern bepflanzt. Das heißt auf jedem Balkon wächst ein spezieller Baum - natürlich in angemessener Größe.

Alle Bauprojekte zeugen vom Verlangen des visionären Architekten Hundertwasser nach noch größerer Lebensqualität und dem Wunsch in größtmöglicher Harmonie und Einklang mit der Natur zu leben. Zitat aus einer Rede von 1983: „Die scheinbaren Mehrkosten eines ökologisch gesunden Hauses oder eines menschlichen Hauses sind gar keine. Denn sie werden durch eine höhere Lebensqualität, durch eine höhere Wohnqualität und durch Glücklichsein amortisiert. Seelische Depressionen kosten viel mehr Geld." Und 1996 schrieb er über den von ihm gestalteten Wohnkomplex „Wald-Spirale" in Darmstadt, der erst nach seinem Tode im Jahre 2000 mit 105 Wohnungen fertiggestellt wurde. Zitat: „Architektur soll den Menschen erheben und nicht gleichschalten und erniedrigen. Architektur soll für den Menschen da sein. Er muss sich geborgen, er muss sich wie zu Hause fühlen können. Es muss seine dritte Haut sein können."

1972 erweiterte Hundertwasser sein Schichtenmodell der drei Häute. Es kamen noch zwei Häute hinzu: Nummer vier: das soziale Umfeld, Familie und Freunde - und Nummer fünf: die globale Haut, also die Umwelt bzw. die Menschheit. Die vierte Haut der familiären und sozialen Umgebung schien für ihn die schwierigste zu sein. Hundertwasser war eher ein Einzelgänger denn ein sozial integriertes Wesen. Als Einzelkind geboren, verlor er schon nach seinem ersten Lebensjahr den Vater. Sein Familienleben bestand nur in der innigen Beziehung zu seiner Mutter. Einen größeren Familienverbund gab es nicht. Die Nazis hatten alle umgebracht. Als seine Mutter starb, fühlte Hundertwasser eine bodenlose Leere, die keine andere Frau je wieder auffüllen konnte. Seine beiden Ehen gingen sehr schnell wieder in die Brüche. Befragt, warum er keine eigene Familie gründen wolle, antwortete er, dass er seine ganze Kraft für seine Kunst brauche. Er könne sich nicht ablenken lassen, doch er könne auf schöne Frauen auch nicht verzichten, Frauen seien für ihn Musen. Frauen seien für ihn so wie schöne Blumen und schöne Pflanzen, sagte er wörtlich. Im Film von Peter Schamoni gab Hundertwasser zu: „Mein Verhältnis zu Frauen ist nicht ideal". Die einzige Frau, die er offenbar vorbehaltlos geliebt und respektiert hat, war seine Mutter.

Natürlich hatte Hundertwasser etliche Freunde und es gab auch immer eine Lebensabschnittspartnerin, doch in der Regel hielt er sie auf Distanz. Und nur ganz wenige Menschen kamen ganz nah an ihn heran. Die vierte Haut erweiterte sich grundsätzlich in seiner Theorie und auch für ihn persönlich über den Freundeskreis hinaus zu Gruppierungen, politischen und ökologischen Bewegungen und Institutionen, für die er sich zeitweise engagierte. Für die Aussöhnung zwischen dem jüdischen und arabischen Volk entwarf er 1978 eine Friedensfahne. 1982 schenkte er sein Poster „Rettet die Wale" an Greenpeace. Und sein Plakat „Rettet die See" war ein Geschenk für die Jacques-Cousteau-Stiftung.

Und das ist der fließende Übergang zu Hundertwassers Vorstellung von der fünften Haut des Menschen, seiner globalen Haut, seiner Verbindung zur Menschheit, zur Schöpfung, zu Mutter Erde und ihrer Natur. Nicht ohne Grund gab er sich den Namen Friedensreich. Er wollte reich an Frieden leben, mit der Natur, mit den Menschen und allen Kreaturen. Die Kunst war für ihn ein Reich des Friedens. Aber auch in der Natur fand er seinen Frieden. Hundertwasser war ein Naturschützer. Er wollte den Menschen wieder in Einklang mit der Natur bringen. So setzte er sich z.B. für die Humus-Toilette und für Pflanzen-Kläranlagen ein, und proklamierte in seinem Manifest „Die Heilige Scheiße", unsere menschlichen Fäkalien seien alles andere als ekelerregend, sondern Teil des natürlichen Kreislaufs. Er engagierte sich gegen Atomenergie und beteiligte sich an vielen Naturschutzprojekten. Die Natur war für ihn die Quelle der universellen Harmonie, die er vor den Überfällen der Menschen und den Schäden der Industrie zu schützen versuchte. „Es gibt keine Missstände der Natur, es gibt nur Missstände des Menschen", lautet einer seiner Botschaften.

In seiner Wahlheimat Neuseeland lebte er seine Vorstellung vom Einklang mit der Natur ohne jeden Luxus, auch ohne Komfort. Im Norden der Nordinsel, nicht weit von der Inselbucht „Bay of Islands", hatte er sich schon in den 1970er Jahren ein großes naturbelassenes Areal, am Rande des Regenwaldes gekauft. Ein paar Kilometer entfernt vom Dorf Kawakawa, nur über kaum befestigte Wege erreichbar, liegt sein Anwesen Kaurinui, (in 35 Grad 19 Minuten südlicher Breite und 174 Grad 9 Minuten östlicher Länge), für Ortsunkundige und ohne GPS kaum zu finden. Dort verbrachte er in seinen letzten Lebensjahren den größten Teil des Jahres - in fast eremitischer Abgeschiedenheit, in größtmöglicher Bescheidenheit und naturnaher Einfachheit. Als eher ärmliche Behausung beschrieben Besucher den ehemaligen Schweinestall, in dem er schlief und arbeitete. Was erschrockene Besucher aus ihrer Sicht als Verwahrlosung ansahen, war für ihn der Inbegriff des einfachen Lebens im Einklang mit der Natur. Was manche Besucher als verschmutzt und primitiv, geradezu unästhetisch ansahen und was in ihren Augen für einen Kunstbotschafter der Schönheit nicht passte, dass kein Garten angelegt sei, nichts bewirtschaftet würde, alles sich selbst überlassen und zugewuchert sei, dass sein Zuhause so unansehnlich sei, das war für ihn die Schönheit eines natürlichen Lebens.

Er vertrat doch die Vorstellung vom Werden und Vergehen, dem natürlichen Kreislauf, in den der Mensch sich einzufügen hat, möglichst ohne Spuren zu hinterlassen. 1979 schrieb er in seinem neuseeländischen Naturparadies eine Art Testament, in dem es heißt: „Ich freue mich schon darauf, selbst zu Humus zu werden, begraben, nackt und ohne Sarg unter einer selbstgepflanzten Buche, auf eigenem Land, in Ao Tea Roa", dem Land der weißen Wolke. Und so geschah es dann auch. Hundertwasser wurde auf seinem Land unter einem Tulpen-Baum nackt und ohne Sarg begraben, im Garten der glücklichen Toten, wie er diesen Fleck Erde genannt hatte.

Das Grab ist übrigens für seine Anhänger und Bewunderer nicht zugänglich. Das Betreten des Anwesens ist für Unbefugte untersagt, so haben es die Nachlassverwalter der Hundertwasser-Stiftung in Wien verfügt. Vielleicht befürchtet man, dass die Besucher, die von der Schönheit der Malerei und Architektur des Meisters begeistert sind, verstört sein könnten, wenn sie sehen, unter welchen vergleichsweise primitiven Bedingungen Hundertwasser gelebt und in welch einfachster Behausung, die viele als unschön empfinden dürften, er gewohnt und gearbeitet hat. Für Hundertwasser waren seine Bilder und Lebensumstände schön. Der potentielle durchschnittliche Käufer seiner Bilder könnte das anders sehen.

Hundertwassers politische Ansichten waren nicht durchgängig konsistent und hin und wieder auch irritierend. Einerseits wandte er sich als Kosmopolit gegen Nationalismus und Kleinstaaterei. Andererseits gab er sich in seinen letzten Lebensjahren als EU-Gegner zu erkennen, propagierte den Erhalt regionaler Eigenarten und setzte sich für die konstitutionelle Monarchie in Österreich ein. Zum 75. Geburtstag von Otto von Habsburg schrieb Hundertwasser in seiner Widmung: Zitat:

„Österreich braucht ein übergeordnetes Zentrum, bestehend aus immerwährenden höheren Werten, - die man gar nicht mehr auszusprechen wagt -, wie Schönheit, Kultur, inneren und äußeren Frieden, Glaube, Reichtum des Herzens [...]. Österreich braucht einen Kaiser, der dem Volke untertan ist. Eine übergeordnete und strahlende Größe, zu der alle Vertrauen haben, weil diese Größe im Besitz aller ist. Die rationalistische Denkungsart hat uns zwar einen kurzlebigen höheren amerikanischen Lebensstandard auf Kosten der Natur und der Schöpfung gebracht, der jetzt wieder zu Ende geht, doch unser Herz, unsere Lebensqualität, unsere Sehnsüchte zerstört, ohne die ein Österreicher nicht leben mag. Österreich braucht eine Krone! Es lebe Österreich! Es lebe die konstitutionelle Monarchie. Es lebe Otto von Habsburg!" - Zitatende.

Dieser Otto von Habsburg, der lange Jahre für die CSU im Europäischen Parlament saß und im Juli diesen Jahres gestorben ist, fiel immer wieder unangenehm auf durch rechtskonservative Äußerungen zu Hitler-Deutschland, zum Rechtradikalismus und zum Einfluss der Juden in den USA, oder dass die Österreicher während der Nazizeit nur Opfer, nicht Täter waren. Hundertwasser hat offenbar nicht alles gelesen, was Otto von Habsburg politisch vertrat, denn sonst hätte er ihm nicht die Krone aufsetzen können. Denn Hundertwasser war Humanist und keinesfalls Rassist. Und erst recht absolut kein Anhänger von braunem Gedankengut. Und dennoch kritisierte er in einer Rede die von ihm festgestellten Auswüchse in Teilen der modernen Malerei und sprach irritierenderweise ausgerechnet im Nazi-Jargon von „entarteter Kunst". An anderer Stelle sagte er: „Ich bin tolerant. Aber ich bin empört über jede Form von Unmenschlichkeit, ob in der Kunst, der Architektur oder in der Gesellschaft." Und das muss man ihm abnehmen: er war überzeugter Pazifist, Streiter für das Recht der Menschen, in Frieden und Schönheit und in Harmonie mit der Natur zu leben.

Er wollte allen Menschen ein Tor zum Paradies öffnen. Zitat:

„Ich möchte, und das mache ich auch ganz instinktiv, vorleben, den Menschen vorleben, vormalen, ein Paradies, das jeder haben kann, er braucht nur zuzugreifen. Das Paradies ist ja da, wir machen es nur kaputt. - Ich will zeigen, wie einfach es im Grunde ist, das Paradies auf Erden zu haben. - Und alles das, was die Religionen und die Dogmen und die verschiedenen politischen Richtungen versprechen, das ist alles Nonsens.

Ich glaube, und ich bin absolut sicher, deswegen glaube ich, dass Malerei eine religiöse Beschäftigung ist, dass dann der tatsächliche Impuls von außen kommt, von irgendetwas anderem, was wir nicht kennen, eine undefinierbare Macht, die kommt oder nicht kommt  und die einem die Hand führt. Man hat früher gesagt, es wäre die Muse; das ist ein blödes Wort natürlich, besser gesagt ist es eine Art Erleuchtung. Und das einzige, was man tun kann, ist, das Terrain vorzubereiten, dass diese außerirdischen, oder wie man sie sonst nennen kann, Impulse einen erreichen können. Das heißt, sich bereithalten. Das heißt, den Willen ausschalten, die Intelligenz ausschalten, das "Besser-machen-Wollen" ausschalten, die Strebsucht ausschalten.

Ich möchte vielleicht bezeichnet werden als Magier der Vegetation oder so etwas ähnliches, es geht um Magie, dass ich ein Bild anfülle, bis es voll ist mit Magie, wie wenn man ein Glas anfüllt mit Wasser. Alles ist so unendlich einfach, so unendlich schön." (Venedig, 1975)

Und damit sind wir wieder bei der Schönheit, bei Hundertwassers Schönheit, wohlgemerkt. Aber sie korrespondiert natürlich mit den kollektiven großen Menschheitsidealen vom Wahren, Schönen Guten.

In manche seiner Bilder kann man hineinspazieren wie in eine wunderbare Landschaft, in der es ständig etwas Neues zu entdecken gibt, ein Füllhorn an Geschichten und Ideen, ein Bild gewordenes sichtbares Gleichnis von Schönheit, Magie und Fantasie. Und wenn man von diesem Spaziergang durch seine Bilderwelt mit all den wundersamen Eindrücken in die Realität zurückkommt, dann ist man nicht mehr der gleiche wie zuvor. Und die Wirklichkeit, in die man zurückkehrt, scheint für eine Weile von einem zauberhaften Glanz überzogen zu sein. Besucht man eines der von ihm entworfenen Gebäude, schaut sich um, lässt die Atmosphäre auf sich wirken, dann verspürt man unwillkürlich ein Gefühl von Heiterkeit und versteht, was er mit seinem Kernsatz meinte: „Schönheit ist ein Allheilmittel." 

„Die Kunst ist der Weg, der zu Schönheit führt. Und die Harmonie mit der Natur ist der Schlüssel zum Glück.", sagte Hundertwasser, und entwickelte damit seine Lebensgleichung: „Natur + Schönheit = Glück".

In der Hundertwasser-Biografie von Pierre Restany: „Hundertwasser - Die Macht der Kunst - Der Maler-König mit den fünf Häuten" heißt es im Schluss-Kapitel  - Zitat: „Er lebt völlig im Einklang mit seiner Sicht der Dinge, er versteht die Welt als ein ständig schöner werdendes Bild. Die Anzahl der Menschen, die dank Hundertwasser besser leben, ist bereits sehr hoch und wird weiter wachsen, denn er hat uns die Macht der Kunst vorgelebt und ständig versucht, den schöpferischen Keim, der in jedem Menschen steckt, zu erwecken. Jetzt liegt es an uns, das ewige Glück dieser Schönheit zu entdecken und weiter zu entwickeln." Dem ist nichts weiter hinzuzufügen. (VR 24.11.11)

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Vorwort zum Mediabook Mani Neumeier Werkausgabe (Vertrieb Zweitausendeins):   

TROMMEL-MANI(E)                                 VR 24.08.11

„Ich bring's einfach nicht fertig, immer nur den gleichen Scheiß' zu machen" (Mani Neumeier)

Welche Band in Deutschland kann, erstens, auf eine bald 45-jährige Geschichte zurückblicken, kann, zweitens, auf eine musikalische Praxis verweisen, die nichts mit peinlichem Retrosound und Aufguss alter Hits zu tun hat, sondern den Herausforderungen der Jetztzeit musikalisch begegnet - und vermag es, drittens, mit immer wieder kreativen CDs und Auftritten sich an vorderster Front der eigenwilligen und unverwechselbaren Bands zu behaupten. Es gibt nur eine Gruppe in Deutschland, die alle drei Kriterien erfüllt: Guru Guru mit dem Urgestein im Zentrum: Schlagwerk-Guru Mani Neumeier. Zur musikalischen Frischzellenkur des inzwischen 70-jährigen Perkussions-Maniac Mani zählen seine Nebengruppen: Tiere Der Nacht, ein avantgardistisches Acid-Jazz-Experimentierfeld, daneben Lover303 mit Conni Maly, ein Voodoo-Trance-Projekt mit Electronic-Loops und Soundsamples, weiterhin Acid Mothers Guru Guru, ein Psychedelic-Power-Trio, 2006 in Japan mit zwei japanischen Musikern ins Leben gerufen, dann nicht zuletzt Der Teufel und sein Guru, ein Elektro-Jazz-Duo mit dem Gitarristen Hans Reffert - und schließlich sein privates Klangkaleidoskop und Soloprojekt Terra Amphibia, eine Soundcollage aus Naturgeräuschen, Ambient-Atmosphären und Weltmusik-Grooves.

In Japan, wo man ihm besondere Wertschätzung entgegenbringt und ihn als wächserne Reproduktion ins Tokioter Wachsfiguren-Museum neben Jimi Hendrix gestellt hat, gilt Mani als Inbegriff des Kraut-Rock. Mani Neumeier, ein „German Kraut"?

In der englischen und US-amerikanischen Umgangssprache werden die Franzosen „Frogs", Frösche, genannt, weil sich die Franzosen angeblich unentwegt an Froschschenkeln laben. Und die Deutschen nennt man „Krauts", nicht weil einer ihrer langjährigen Kanzler Kohl hieß, sondern weil sie in den Augen britischer Witzbolde und Karikaturisten ständig Kohl und Sauerkraut in sich hineinstopfen. Die angloamerikanische Rockszene benutzte den Begriff „Kraut" anfänglich eher abfällig, um damit den bundesdeutschen Rock der frühen siebziger Jahre zu ironisieren oder gar lächerlich zu machen. Gründe für diese Häme lieferten die Deutsch-Rock-Gruppen selbst nicht selten unfreiwillig: etwa so manche englisch singende Band durch ihr unverständlich bis falsch ausgesprochenes Kauderwelsch-Englisch, oder durch allzu schwülstiges Pathos oder durch eine stocksteife Kasernenhof-Rhythmik ohne Swing und Groove.

Doch im Laufe der Jahrzehnte wandelte sich der Begriff „Krautrock" von einer Lachnummer zu einem Qualitätsbegriff. Die späte Wertschätzung, ja zum Teil fast kultische Verehrung von Deutschrock-Altmeistern der Siebziger wie Amon Düül II, Can, Kraftwerk und Guru Guru - eine späte Rehabilitation, die speziell in englischen Musikerkreisen ihren Anfang nahm - hat diesen Sinnes- und Bewertungswandel bewirkt. Nicht nur die englische Musikpresse betrieb plötzlich Wurzelforschung in Sachen Krautrock, auch die internationale Techno-Szene und die Vertreter des Neo-Psychedelic und New-Progrock zogen den Hut vor den Altvorderen des Krautrock.

Während etliche Deutsch-Rocker der ersten Stunde entweder weihevoll oder sphärisch jenseitig daherkamen wie z.B die Berliner Tangerine Dream und Ash Ra Tempel, oder cool roboterhaft wie Kraftwerk aus Düsseldorf, oder avantgardistisch experimentell wie Can aus Köln, oder anspruchsvoll und gegenkulturell wie die Münchner Amon Düül und Embryo - jedenfalls meist ernsthaft, theoretisch untermauert und oft von teutonischer Schwere belastet - da kam das Musiker-Kollektiv Guru Guru aus der Wahlheimat Odenwald eher locker tänzelnd, dabei musikantisch hochkarätig und immer wieder lustvoll grinsend daher, dank der Späße von Mani Neumeier. Der Palmenzweig für die Heiterkeit im Krautrock gebührt ohne Zweifel Mani und seinen Freunden von Guru Guru. Man denke nur an Manis legendären „Elektrolurch" (1973), oder an all die komischen Hühner von „Chicken Rock" (1975) über „Dös War I" (mit dem Refrain ‚Jetzt lass' I alle Hühner fliegen', 1979) bis „Blue Huhn" (1981). Es wird berichtet, dass er bei Konzerten Käfige mit Hühnern auf die Bühne geschleppt, das Federvieh frei gelassen und ins Publikum gescheucht habe. Das Hühner-Gegacker zieht sich durch Manis Leben wie eine Art Leitmotiv, respektive Hühnerleiter-Motiv. Die Mär wird erzählt, dass Mani sein erstes Geld auf einer bajuwarischen Hühnerfarm verdiente. Seine erste Rhythmus-Schule war eine Lehre als Spengler. Seitdem klopft und klöppelt er sich mit Mani-scher Perkussion und Präzision durchs Leben und erspielte sich den Ruf, einer der individuellsten, kreativsten und vielseitigsten Schlagwerker Europas zu sein.

In den rund 55 Jahren seiner persönlichen Musikergeschichte hat er stilistisch fast alles getrommelt, was man unter dem weiten Mantel der populären Musik mit Trommelstöcken und rhythmischen Händen bearbeiten kann, von Freejazz bis Popsongs, von lärmendem Powerrock bis zu leisen Ambient-Klängen, von Elektronik bis Tango und Calypso, von Krautrock bis Weltmusik, von strukturiertem Kreativ-Chaos bis imaginativen Sound-Tableaus. Ein Grund für diese chamäleonartige Bandbreite ist weniger ein ruheloser Suchtrieb, als vielmehr ein universelles Interesse an Musik und eine vielseitige Begabung.

Mani Neumeier wurde am 31.12.1940 in München geboren, zog als 13-jähriger mit seiner Familie nach Zürich und begann dort seine Musikerlaufbahn. Ab 1964 spielte er Jazz und improvisierte Musik mit dem Irene Schweizer Trio, gefolgt von Freejazz-Aktivitäten mit dem Manfred Schoof-Quintett, mit Alexander von Schlippenbach und Peter Brötzmann. Er machte Aufnahmen mit dem Globe Unity Orchestra, mit Wolfgang Dauner, Champion Jack Dupree und George Gruntz. Der Jazzpapst Joachim Ernst Berendt lobte ihn damals als „größte rhythmische Begabung des deutschen Freejazz". Doch 1968 schlug Mani ein neues musikalisches Kapitel auf. Gemeinsam mit dem Bassisten Uli Trepte gründete er die Free-Rock-Gruppe Guru Guru. Live-Premiere feierte das anfängliche Trio im August 1968 auf dem Heidelberger „Holy Hill". Im September '68 folgten dann zwei große Auftritte, zum einen gemeinsam mit Tangerine Dream und Amon Düül bei dem Festival „Deutschland erwacht - Popmusik aus deutschen Landen" und, wenige Tage später, in der Essener Grugahalle anlässlich der „Internationalen Essener Songtage". Damit hatte sich Guru Guru etabliert und in Deutschland einen Namen gemacht.

Dass sich Mani damals vom Jazz ab und dem Pop/Rock zuwandte, das begründete er so: sein Sinneswandel sei gekommen, als er gemerkt habe, dass die „ganzen jungen Zähne in den Beatschuppen verschwunden" seien und den Jazzern „nur der kalte Kaffee von gestern übrig geblieben" sei. „Frauen mögen keinen Jazz. Also spiele ich jetzt Rock'n'Roll." Im Jahre 1967 konnte man über Mani Neumeier und seine Inspirationsquellen als Schlagzeuger zum ersten Mal im Magazin Sounds Erhellendes lesen: „Alles, was täglich um mich herum raschelt, klingelt, knattert, quietscht, pfeift, rauscht, tröpfelt, poltert, kollert, schmatzt, flirrt, hämmert, brutzelt, schnarrt und IST". Sein Musiker-Kollege Hans Reffert schrieb 2001, Mani Neumeiers Lebens- und Trommel-Philosophie sei im Grunde sehr einfach. Für ihn seien „alle verfügbaren Klänge des Universums Musik: Geräusche, Dschungel-Töne, Fabrik-Klänge, Volksmusik, Jazz, Rock'n'Roll, Maschinen-Beats, serielle Musik - eine unendliche Sound-Kollage". Das gilt bis heute und war auch schon in der Anfangszeit von Guru Guru zumindest ansatzweise hörbar.

Auf den ab 1970 veröffentlichten Alben wie „UFO" (1970), „Hinten" (1971), „Känguru" (1972), „Don't Call Us We Call You" (1973) und „Dance Of The Flames" (1974) zelebrierten Guru Guru ein extravagantes und experimentierfreudiges Musikkonzept zwischen Underground, Acidrock, Jazzrock, Psychedelia, frühem Ethno-Beat und anarchischen Clownerien. Der Erfolg kam und ging und pendelt bis heute auf einem Niveau zwischen „ganz okay" und „Alle Achtung!".

Dann schrieb man das Jahr 1979. Der Jazzrock war mausetot und roch entsprechend. Komplexe Arrangements waren mega-out und geradezu verpönt. Der Punk hatte alles Ziselierte, Verschnörkelte, alles kunstvoll sich Gebärdende in Klump und Asche gehauen. Dann wurden die genialen Dilletanten des Punk allmählich von ambitionierteren New Wave-Musikern abgelöst. Angesagt war jetzt ein nicht mehr so wütendes Reindreschen mit drei Akkorden und schnellen Stakkato-Rhytmen wie beim Punk, aber auch der New Wave blieb energisch, kantig, roh und verkündetet als Botschaft: Vergiss den alten Schrott der siebziger und sechziger Jahre, hier kommt die „Neue Welle", die alles Alte hinwegspült. Wen interessiert noch das künstlerisch wertvolle Rumgewichse, die verjazzte Rumfuddelei der Siebziger. New Wave macht alles neu.

In diesem Jahr '79 steht ein gewisser Mani vor dem Studio-Mikrofon, sucht nach Worten für einen guten, zeitgemäßen Text, während seine Mitmusiker um ihn herum unbeirrt allerfeinste Jazzrock-Arrangements gekonnt spielen - nur, leider, altmodisch unzeitgemäß, völlig überholt, absolut zurückgeblieben, eben „70er-Jahre-mäßig". Und Mani ringt dazu nach Worten. Und er tut so - witzig ironisch - als fiele ihm nichts ein, außer dem Refrain: „Was für 'ne Welt!" - ein zeitloser Satz, ein ewig aktuelles, staunendes Zur-Kenntnis-nehmen des letztlich nicht Begreifbaren. „Was für 'ne Welt", das hatte schon fast etwas Philosophisches, wie es Mani damals so gelassen und quasi en passant in den Raum stellte. Und dieses Wundern über die Dinge und Zeitphänomene mit leicht anarchischem Blick, mit Ironie und Humor hat sich bis in die heutigen Songtexte von Mani Neumeier fortgesetzt - wobei die Worte bei Guru Guru in der Regel eine eher untergeordnete Rolle spielten und auch nicht gerade zu den herausragenden Stärken der Band gehörten.

Mani Neumeier bastelte mit Worten ähnlich spielerisch wie mit Klängen und Instrumenten. Er hat sogar eigene Klangerzeuger erfunden wie etwa das „Mani-Tom", eine aufblasbare Trommel, bei der durch erhöhten oder verminderten Luftinhalt der Klang modifiziert werden kann. Und, er bezog Tablas, indische Glocken, tibetische Becken und balinesische Gamelan-Instrumente in sein weitläufiges Drumset mit ein. „Ich spiele Orchester und kein Schlagzeug."

1977 erschien das Guru Guru-Album „Globetrotter", mit dem sich die Gruppe als Ethno-Rock-Pioniere profilierte. Mani entwickelte sich selbst in der Folgezeit zum Globetrotter, bereiste als Weltenbummler und Klang-Abenteurer vor allem den asiatischen Raum, war oft unterwegs zwischen Finkenbach im Odenwald (seinem deutschen Domizil, in dem über viele Jahre das allsommerliche Finki Open Air veranstaltet wird) und fernen Zielen in Nepal, Bali, Indien, Korea, Mongolei, Madagaskar, Australien und Japan. Aber nicht als Abhak-Tourist, nicht als „Globetrottel" war Mani auf Reisen, sondern als aufmerksamer Beobachter und Feldforscher auf der Suche nach inspirierenden Klängen und dem ultimativen Trommel-Groove. Manis CD-Trilogie „Terra Amphibia" erschloss neue Klangwelten. Auf seinen Streifzügen durch die Welt hatte er als „leidenschaftlicher Ton-Jäger" immer ein Aufnahmegerät dabei, daneben aber auch Perkussionsinstrumente, „kleine Teile, die nicht schwer sind". So konnte er, wann immer sich die Gelegenheit ergab, lautmalerisch-perkussiv in Kommunikation mit seiner Umgebung treten - mit Vögeln, Affen und geheimnisvollen, verborgenen Klangräumen im Dschungel, an Gewässern oder in Siedlungen, mit allem, was kreucht und fleucht. Und natürlich trat er auch, wann immer möglich, in Kontakt mit einheimischen Musikern, deren ethnische Instrumente er gerne selbst spielerisch ausprobierte. Wieder zuhause angekommen, sondierte er seine Ausbeute an Tierlauten, Naturgeräuschen, spontanen Musik-Sessions und ließ sich inspirieren, mit diesem vielfältigen Klangmaterial musikalisch zu arbeiten. Manchmal alleine in meditativer Versenkung, oft auch zusammen mit befreundeten Musikern aus seiner Guru-Guru-(plus Ableger-)Community kreierte er ungemein originelle Sound-Gemälde, Ton-Trips, Ambient-Tracks, repetitive, minimalistische, fein gesponnene Gewebe voller Klangfantasie, trance-ähnlichen Schwingungen, hellwachen Traumbildern, leisen Laut-Impulsen und klanggewordener Lebensfreude, immer getragen von einem lebendigen Puls, dem unverwechselbaren Lebens-Rhythmus, der in den Adern dieses Ausnahmemusikers vibrierend fliest. In seinen „Terra Amphibia"-Klangkunstwerken breitet sich Manis Geist und Seele und seine Liebe zum Leben hörbar aus: erdverbunden und himmelweit, im freien Fluss mäandernd. Hier klingt alles nach dem spirituellen und weltoffenen Kosmos eines aufgeklärten, modernen Schamanen und Freigeist, der er ist - mit elektrischer, energetischer Verstärkung natürlich auch im Umfeld seiner diversen Rock-Formationen.

Bei der Tournee der „Deutschen Rockhelden" im Jahre 2006, die ich organisieren und begleiten durfte, erlebte ich Mani Neumeier jeden Abend (an der Seite von Anne Haigis, Helmut Hattler, Ingo Bischof, Ali Neander und Andreas Neubauer) gleichermaßen als clownesken Musik-Entertainer wie als individuellen Trommel-Artisten und vom Publikum hochgeschätzte Persönlichkeit der deutschen Rock-Geschichte. Sein Schlagzeug- und Percussion-Solo gehörte immer zu den frenetisch bejubelten Höhepunkten des Konzertes. Vor allem seine Show-Einlage als Mischung aus Knecht Ruprecht und Rumpelstilz mit großem Sack über der Schulter löste stets Heiterkeit aus, wenn Mani seinen Sack mit dem Spruch „Suck it to me" auf die Bühne entleerte. Blechschüsseln aller Größen purzelten dann auf den Bühnenboden und alle Köpfe der Zuschauer reckten sich, um verfolgen zu können, wie Meister Mani sein blechernes Schüssel- und Saucieren-Orchester klöppelnd bearbeitete und zu Höchstleistungen führte, was Tonvarianten der Blechnäpfe, Sprunghöhen der Saucieren und Rhythmen der rasenden Trommelstöcke anging. Als darüber diskutiert wurde, ob diese furiose Blechtrommelei auf dem Tonträger des Konzertmitschnitts mitenthalten sein solle, meinte Mani: „aber nur als Bonus-Dreck".

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Interview, geführt von Gert Heiland von der Neuen Wetzlarer Zeitung und Marburger Neuen Zeitung (Zeitungsgruppe Lahn-Dill/Mittelhessen), zur Herbsttour 2010 und zum Bühnenprogramm „IMAGINE John Lennon" (28.09.10)

Frage 1: Was ist das Besondere an John Lennon, was zeichnet ihn aus, grenzt ihn zu den anderen ab?

VR: Neben seinen herausragenden Fähigkeiten als begnadeter Songschreiber und Sänger, ist es seine facettenreiche und vielschichtige Persönlichkeit, die bis heute fasziniert. John Lennon war ein widersprüchlicher, aber aufrichtiger Mensch. Seine Ehrlichkeit konnte schonungslos und verletzend sein. Auch wenn er seine Meinungen, Einsichten und Ziele änderte, er engagierte sich immer mit Haut und Haar. Er war heiß oder kalt, aber niemals lau. An ihm musste man sich reiben. Sein Beatles-Widerpart Paul war und ist dagegen ein Konsens-Typ, im Vergleich zu John eher glatt und einfach nett. John war alles andere als das: er konnte austeilen, rüpelhaft sein und ungerecht. Unvergessen bleibt die wütende, hämische, fast schon hasserfüllte Songattacke des Frieden predigenden "Imagine"-Sängers gegen seinen früheren Intimus Paul in "How Do You Sleep" aus dem "Imagine"-Album von 1971. Äußerlich zwar widerborstig und sich als cooler, schlagfertiger Rocker gebend, dazu im Verhalten oft ironisch bis zynisch, war Lennon tief drinnen doch ein verletzlicher Romantiker mit einer verletzten Seele. Wie kein anderer Beatle war er experimentierfreudig und stets auf der Suche. Ringo hat sich dagegen in seiner Durchschnittlichkeit gemütlich eingerichtet und George fand seine spirituelle Heimat in der Krishna-Bewegung. John dagegen irrlichterte von der Urschrei-Phase seines Albums "John Lennon/Plastic Ono Band" (1970) über seine kämpferische Polit-Phase des (Flop-)Albums "Some Time In New York City" (1972), über seine Exzess-Phase mit diversen Saufkumpanen des "Lost Weekend" und dem Album "Walls and Bridges" (1974), bis zu seiner Hausmann- und Familien-Phase des Albums "Double Fantasy" (1980). In all dieser Inkohärenz findet sich doch ein roter Faden: die ewige Frage: "Who am I?" (siehe und höre sein Song "Look At Me") und seine immerwährende Suche, nach Liebe, Anerkennung und Erfüllung.

Frage 2: Ihr Lieblingssong von John Lennon und warum?

VR: 1. Aus der frühen Beatles-Ära 1965: "In My Life". Weil der Song textlich ungemein sensibel und reflektierend ist und kompositorisch manchem Kunstlied ebenbürtig.

2. Aus der kreativsten Beatles-Ära 1967: "I Am The Walrus". Wegen der Experimentierfreude in Text und Musik. Wegen der harmonischen Endlosschleife, die sich in alle Ewigkeit weiterdreht, obwohl sie auf der
Platte ausgeblendet wurde; und wegen der wunderbar absurden bis tiefsinnigen und verhonepipelnden Textzeile: "elementary penguin singing Hare Krishna, man you should have seen them kicking Edgar Allan Poe" (nur als Beispiel).

3. Aus seinem ersten Soloalbum von 1970: "Love", ein wunderschönes, leises Lied über die Universalität der Liebe. Der Text ist prägnant wie ein Haiku. Und der Grundtenor ist der Wunsch, geliebt zu werden, vielleicht das wichtigste Menschenrecht überhaupt und eines der wichtigsten Themen im Werk von John Lennon.

Frage 3: Eine (kurze) Anekdote , die Sie erzählen werden?

VR: Was ich selbst mit eigenen Augen am 25. Juni 1966 in der Essener Gruga-Halle beim Auftritt der Beatles sah, wie John Lennon auf der Bühne vor seinen Fans pathetisch in die Knie geht und sie übertrieben gestisch anhimmelt, worauf die Fans vor Begeisterung wie entfesselt toben, obwohl das doch ganz eindeutig eine Verarsche war. (Diese Anekdote ist aber nicht Bestandteil des Bühnenprogramms "IMAGINE John Lennon")

Frage 4: Wer ist für Sie ein Lennon unserer Tage?

VR: Sie werden verstehen, dass es für mich nur einen einzigen John Lennon
gibt und geben kann.

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Beitrag für die Deutsche Welle, Bonn - 01.06.2010

„Faszinosum Open Air"

Man kann die Musik, die man mag, in Zellophan verpackt, mit Barcode versehen, als CD kaufen und über Super-Musikanlagen gestochen scharf und glasklar hören, man kann die favorisierte Musik auf alten Vinyl-Platten nostalgisch über edelste Grammophone abspielen und sich am warmen Klang delektieren, einschließlich der kleinen Knister-Störgeräusche - jeder Knackser „tells a story" - man kann seine Lieblings-Songs aus dem Netz saugen und als mp3-Datei über I-Pods, Handys etc. jederzeit und überall verfügbar machen. Aber dabei fehlt immer etwas Entscheidendes: Spannung, Atmosphäre, Direktheit, schweißtreibende unmittelbare Energie, auch so etwas wie Kommunikation und ein gemeinschaftliches Erlebnis. Das alles bringt die Musik nur rüber, wenn sie live ist, dann erst übermittelt sie ihre ganze Botschaft.

(Live is live - Opus)

Lebendig ist Musik nur, wenn sie für ein Publikum live aufgeführt wird. Warum nicht bei einem Festival unter freiem Himmel?

(Liveatmo)

Einfach geil, super-cool, hammermäßig, so bejubeln junge Fans den Besuch eines Openair-Festivals.

Sommer, Sonne Open Airs, auch wenn die Sonne nicht immer mitspielt: in der wärmeren Jahreszeit pilgern alljährlich Tausende von Pop- und Rockfans in die Freiluft-Arenen, um neben einem Gemeinschaftsgefühl auch die angesagten Stars und Newcomer der aktuellen Popszene live zu erleben. Seit gut 50 Jahren sind die Massenwallfahrten zu den Feldlagern der Popkultur ein Phänomen.

Die Geschichte der großen Open Air-Festivals begann im „Summer of Love" 1967 in Kalifornien. Auf der Festwiese von Monterey fand das erste „Love and Peace"-Massen-Festival statt. Es war das erste große internationale Popereignis, bei dem etwa 50.000 Besucher zusammenkamen, um die Popgrößen der damaligen Zeit live zu erleben, Stars wie The Who, The Byrds, Jimi Hendrix und neben vielen anderen auch eine junge Sängerin, die damals noch ganz am Anfang ihrer Karriere stand und die Festivalbesucher gleichermaßen schockierte wie faszinierte mit ihrer whisky-getränkten, energie-geladenen Blues-Röhre

("Down on me" - Janis Joplin)

In Monterey wurde im Juni 1967 nicht nur Janis Joplin entdeckt, dort haben die Plattenbosse und Konzertveranstalter zum ersten Mal registriert, dass mit Popmusik und Festivals großes Geld zu machen ist. Ebenso friedlich wie das „Monterey International Pop Festival" verlief zwei Jahre später auch das zum Mythos überhöhte „Woodstock Music and Art Festival", das im August 1969 im US-Bundesstaat New York stattfand: „legendäre Tage voller Frieden, Liebe und Musik", wie es damals zu lesen war.

(O-Ton Woodstock „Peace")

Die etwa 500.000 Woodstock-People skandierten ganz im Sinne der Hippie-Gegenkultur „Peace, peace" und standen dabei im Schlamm oder saßen im Matsch bei strömendem Regen, während Country Joe McDonald das berühmte böse F-Wort mit dem Publikum buchstabierte.

(„Gimme an F" - Country Joe McDonald in Woodstock)

Woodstock ist zum Synonym geworden für das Open Air Festival als Wallfahrtsort der Popjugend. Doch das allererste Open Air Groß-Ereignis der Popgeschichte fand am 23. August 1964 vor 17.000 schreienden Kids statt. Es war zwar kein Festival, denn es trat nur eine einzige Band damals in der Hollywood Bowl von Los Angeles auf. Doch diese 4 Pilzköpfe legten den Grundstein für die künftige Open Air-Entwicklung. Stimmt das wirklich? Yeah Yeah Yeah

(„She loves you" - Beatles-Konzert 1964 Hollywood Bowl)

An diesem Augusttag vor 46 Jahren wurde das Massenspektakel „Open Air Konzert" geboren. Warum Tausende von Leuten zu einem Konzert unter freiem Himmel strömen, ist in diesem Fall leicht beantwortet. Die 17.000 Fans, zum damaligen Zeitpunkt die größte Menschenmenge, die je zu einem Popkonzert im Freien gekommen war, wollten natürlich ihre Idole John Paul George und Ringo sehen. Ein Jahr später spielten die Beatles im ausverkauften New Yorker Shea Stadion vor über 55.000 Fans.

(Atmo Shea-Stadion)

Worin liegt die Faszination der großen Open Air Veranstaltungen? Im Falle der Beatles zu Zeiten der hysterischen Beatlemania war das keine Frage. Aber heutzutage strömen Tausende auch zu Newcomer-Festivals, bei denen nur relativ unbekannte Bands auftreten.

(Festival Liveatmo) + („Shine" Collective Soul)

Popkonzerte unter freiem Himmel gehören zu den schönsten Erfahrungen, die der Sommer einem musikbegeisterten Menschen bieten kann.  Aber was ist, wenn der Himmel seine Schleusen öffnet, wenn es kalt und windig ist? Dann wird schnell klar, dass Konzerte unter freiem Himmel für einen optimalen Musikgenuss höchst ungeeignet sind. Das gilt nicht selten auch bei günstigen Wetterbedingungen.

Die Beschallung, die Akustik, das unverfälschte Hören der live aufgeführten Musik ist schon in geschlossenen Räumen nicht unproblematisch; im Freien ist eine gute Akustik oder gar ein optimaler Klanggenuss fast ein Ding der schalltechnischen Unmöglichkeit. Weiter hinten auf dem Festivalgelände wird der vielleicht noch so gut abgemischte Sound vom Winde verweht, in der Nähe der Bühne, da wo die Optik am besten ist sorgt der akustische Druck der Lautsprecher dafür, dass einem das Haupthaar nach hinten gefönt wird, potentielle Hörschäden inklusive. Das heißt: die akustischen Bedingungen bei Open Air Festivals sind oftmals ein Graus. Das weiß fast jeder Festivalbesucher. Warum also geht er trotzdem hin?

Um zu sehen und gesehen zu werden? Wegen des Gemeinschaftsgefühls, der Vorstellung von wir-sind-alle eine Familie? Wer ein Groß-Festival schon mal besucht hat, weiß, die Erfahrung von Gemeinsamkeit beschränkt sich meist darauf, dass man Teil einer Masse ist. Oder wie es ein Kritiker formulierte: „Die Manifestation einer gemeinschaftsbildenden Kraft, die Hoffnung auf solidarisches Erleben, erfüllt sich nur darin, dass die Besucher einige Zehntausende zählen".

(Atmo Festival „Rock am Ring")

Quantität ist das vor allem herausragende Phänomen eines Mega-Festivals: die Masse an Menschen, an auftretenden Künstlern, an Phonzahlen, und nicht selten auch die Quantität an Kommerz. Oftmals sind die Festivals gigantische Werbeveranstaltungen für Konsumgüter und Genussmittel. Die Tabak-, Getränke- und Klamottenindustrie hat die großen Festivals längst in der Hand oder hält die Hand auf für ihr scheinbar generöses Sponsoring. Die großen Event-Festivals gleichen oft live-inszenierten Werbespots. Ob Bierbrauer, Zigarettenhersteller oder Jeansverkäufer, sie betreiben ihre Geschäfte auf und mit den Open Air-Events. Viele der Kommerz-Festivals zeigen schon im Namen, wem sie gehören und für wen sie Reklame machen.

Ohne das große Geld der Sponsoren lassen sich Mega-Festivals nicht finanzieren, sagen viele Veranstalter - das ist offenbar so. Aber warum müssen Open Air Festivals denn überhaupt dermaßen gigantisch sein? Wer profitiert am meisten vom Gigantismus? Der Veranstalter? Die Sponsoren? Die Künstler, das Publikum? Die am Musikgenuss interessierten Konzertbesucher dürften - wegen der problematischen Klangqualität und der begrenzten Sichtmöglichkeiten - wohl am wenigsten von einem Massenfestival profitieren, obwohl sie das alles finanziert haben.

(Musik aus Werbespot)

Warum also geht man hin zum Open-Air-Konzert? Wird ein Benefiz-Festival nur besucht, weil man Solidarität und Engagement beweisen und sich für einen guten Zweck einsetzen will - wie 1971 beim „Concert For Bangladesh" oder wie beim gigantischen Live-Aid-Festival, 1983 veranstaltet zugunsten der Hungernden in Afrika und weltweit von 1,5 Milliarden Fernsehzuschauern verfolgt?

Geht man zu einem der vielen Umsonst & Draußen-Festivals, nur weil es keinen Eintritt kostet?

Geht man hin, nur weil es sich um ein gesellschaftliches Ereignis handelt oder weil hier der Wind der Geschichte weht, wie etwa bei den Open Air-Veranstaltungen für Amnesty International, oder dem „Free Nelson Mandela"-Konzert von 1988 oder bei dem Spektakel „The Wall live", als  nach dem Fall der Mauer Roger Waters in Berlin im Juli 1990 sein Pink Floyd-Opus „The Wall" vor 250 Tausend Zuschauern aufführte?

("Another brick in the wall" - Roger Waters "The Wall Live")

Befragt, warum der durchschnittliche Musikfan zu einem Open Air Konzert geht, erhält man folgende Antworten: Auf dem Festivalgelände wäre man wie im Urlaub, es entstehe ein eigener kleiner Kosmos, die letzte Zuflucht vor dem Stress des Alltags, man würde coole Leute treffen, feire eine große Party, sei ein Teil des Ganzen und könne mal so richtig die Sau rauslassen. Es herrsche ein Ausnahmezustand, in dem vieles möglich sei, was draußen so nicht passieren könne, dies gaben jugendliche Open Air-Besucher bei einer Befragung zu Protokoll.

Das Ausrasten und Über-die Stränge-schlagen kann allerdings zu furchtbaren Konsequenzen führen, wie im dänischen Roskilde im Sommer 2000, als acht Festivalbesucher ums Leben kamen, weil übermütige Fans am Bühnenrand schubsten und drückten und hinstürzende Menschen unter sich begruben. Das Festival von Roskilde hatte sein Altamont erlebt, jenes Trauma, das sich auf ewig mit einem Free-Concert der Rolling Stones verbindet, als im Dezember 1969 ein junger Schwarzer von Hells Angels direkt vor der Bühne erstochen wurde.

("Jumpin Jack Flash" Rolling Stones)

Doch auch jedes friedlich verlaufene Open Air -Festival geht dann allzu schnell zu Ende. Die Festivalbesucher haben 30 bis 170 Euro für den Eintritt bezahlt, vielleicht noch die neue DVD der Lieblingsband für 15 Euro auf dem Festivalgelände gekauft, 12 Euro berappt für das Festival-T-Shirt als Andenken. 5 Euro für das Programmheft, 3,50 für einen Becher Zuckerwasser oder Bier, 4 Euro für ne trockene Stulle, 10 bis 50 Euro für die Anreise zum Festivalgelände: Summa summarum im Durchschnitt 100 Euro. Sie haben draußen vorm Eingang in der Schlange gewartet, sie haben drinnen in der Schlange vor den sanitären Einrichtungen gewartet, sie waren 10 bis 50 Tausend Gleichgesinnte unter sich, dicht gedrängt nebeneinander, rauchend, kiffend, trinkend, dösend, redend, zuhörend, das Vorprogramm geduldig absitzend, die Hitze oder den Regenschauer ertragend und die länger als geplant sich hinziehende Umbaupause klaglos hinnehmend. Beim Eindunkeln dann die Sterne und die Stars, zweieinhalb Stunden Powersound, vielleicht ein Schlagzeugsolo, oder ein Gitarrensolo, drei Zugaben und Tausende leuchtende Handys, was früher die flammenden Feuerzeuge waren. Und dann ist der Spuk vorbei. Die Fans sind begeistert, der Moderator vom lokalen Privatradio ist begeistert, der Veranstalter war schon im Voraus begeistert und die Zeitungen werden die Begeisterung übermorgen nachholen; die Blogger Simser und Twitter sind da sehr viel schneller mit dem Begeistert-sein. „Do you feel alright" hatte der Sänger gerufen, "everybody say yeah". Und siehe: alle sagten sie "ja ja ja",  alle fühlten sich prächtig, manche gar high und andere trunken von neuen Eindrücken oder nur von zuviel „Allohol".

Aber was bleibt? Was nehmen die Festival-Besucher mit in ihren Alltag? Im besten Fall die Erfahrung von einer Gegenwelt, in die man sich aus der lustverhehlenden Arbeits- und Alltagswelt immer wieder zur Sommerzeit flüchten kann. Oder: wenn es nichts weiter wäre als die Erinnerung an ein paar erfreulich verbrachte Stunden, womöglich gar mit ein paar intensiven Momenten unter Gleichgesinnten, dann wäre das auch schon eine ganze Menge.

(Grönemeyer live, Publikum singt)

PS: Beobachter der Open Air-Szene nennen immer wieder das Haldern Pop Festival am Niederrhein als Beispiel für ein gelungenes Festival, weil die Zahl der Besucher auf 5000 beschränkt wird, weil sich die Organisatoren dem Prinzip Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen, weil „zeitgenössische Themen, intelligente und gefühlsbetonte Musik mit dem existentiellen Lebensgefühl verknüpft" werden und damit „die schon verloren geglaubte Ursprünglichkeit von Musik und ihre emotionalen Wirkungen" live erfahrbar sind.

Das 27. Haldern Pop Festival findet vom 12. bis 14. August 2010 statt. Über 40 internationale Gruppen und Solisten, überwiegend aus der Indie-Popszene, werden auftreten, darunter Sophie Hunger, Portugal.The Man, Mumford & Sons, Detroit Social Club, Beirut etc. (Seit Ende Mai ist das diesjährige Hadern Pop Festival bereits ausverkauft)

Nachtrag: Unter der Überschrift „Der größte Pop-Zirkus Europas - vier tolle Tage feierten Esoteriker, Linke, Künstler und Musiker das Glastonbury-Festival" schreibt Christoph Albrecht-Heider am 29.06.2010 in der FR: „Mit fast 1500 Gruppen und DJs auf mehr als 40 Bühnen ist ‚Glasto' weit mehr als ein Rockfestival, es ist auch Karneval und Kirchentag, Love Parade und Landpartie, Protest und Popkultur, oder auch, um es mit einem beliebten T-Shirt-Aufdruck zu sagen: sex and drugs and sausage roll."

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Frank Zappa / Freak-Genius mit Frack-Habitus

(Fast) alles über die »Urmutter« der Mothers of Invention, über sein Leben, seine Psyche, seine Platten,

aufgezeichnet von Volker Rebell (im Jahre 1977)

Buch-Kapitel in "Rock-Session 1 - Magazin der populären Musik (rororo 7086) erschienen im Rowohlt Taschenbuch-Verlag 1977

»The cheese I have for you is real and very new«

Da stimmen so viele Szenenbeobachter in den Klagegesang auf die musikalisch niedergehende, richtungslos und inspirationsarm gewordene Rockszene ein und lassen die Ausnahme von der Regel generös unter den Tisch fallen. Wandelt man abseits der ausgelatschten Rocktrampelpfade und lässt sich vom Talmiglanz des buntschillernden Ex-und-Hopp-Pop nicht blenden, wird man feststellen, dass die kreativ fruchtbaren Sonderfälle in der Rockeinöde gar nicht so spärlich gesät sind wie oftmals behauptet.

Es gibt sie, jene Rockmusik-Entwicklungen, die sich mehr oder minder losgelöst haben von den festgeschriebenen, standardisierten Formen, Mustern und Schablonen, nach denen etwa die Wegwerfmoden gestrickt sind. Es gibt progressive Tendenzen, die aber dennoch in der afroamerikanischen Rocktradition stehen, diese Tradition jedoch nicht museal bewahrend beweihräuchern, sondern sie benutzen, um sie zu verändern.

Die Zahl der echten Rockinnovatoren mag bescheiden sein, gemessen an den Heerscharen des zurückgebliebenen Fußvolks. Doch die impulsgebende Funktion dieser kleinen radikalen Rockminderheit für die kommerziell auswertenden Nachzügler ist nicht zu unterschätzen.

Eine der schillerndsten, faszinierendsten und widersprüchlichsten Persönlichkeiten im kleinen Häuflein wackerer aufrechter Rockerneuerer ist: Frank Zappa, Jahrgang 40, Rockgröße, Groß-Mutter der MOTHERS OF INVENTION. Er ist die Intelligenzbestie, das Universalgenie, der Zehnkämpfer unter den Rock-Matadoren. In allen Disziplinen ist er zu Hause, in allen Sparten beweist er seine Meisterschaft mit kreativen Höchstleistungen. Ganz oben auf dem Siegertreppchen thront er im Rock-Olymp. Kaum ein Jahr vergeht, in dem er nicht irgendwo in der Rockwelt zum «Musiker des Jahres» gewählt würde.

Über Mangel an Lobeshymnen und verbalen Goldmedaillen braucht sich der Rock-Genius, samt seiner erfindungsreichen Mütter, als Meister halsbrecherischster Kunststücke aus der musikalischen Trickkiste, nie zu beklagen. Wohl aber über die ......  (mehr, bzw. der gesamte Text in aktualisierter Form  in absehbarer Zeit als digitaler Download)

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Linernotes für die DVD/CD-Produktion: „DIAMONDS - an orchestral tribute to The Beatles", eine Veröffentlichung der Beatles Revival Band + Orchestra

01.04.2010

Die Beatles „vergeigen", darf man das? Man darf - wenn es so stimmig und hörenswert in Szene gesetzt und mit so viel Gespür und handwerklichem Können realisiert wird wie vom Beatles Revival Orchestra unter der Leitung von Fritz Heieck. Aber grenzt das nicht an Majestätsbeleidigung, wenn man sich erdreistet, die genialen und auf ewig gültigen Original-Fassungen der Beatles durch Orchesterarrangements im Charakter völlig zu verändern? Schon ab 1965 haben die Beatles selbst ihren Gitarren-Sound durch Hereinnahme ungewohnter Instrumente erweitert. Das Streichquartett im Song „Yesterday" veränderte das Klangspektrum der Beatles - und damit der gesamten Popmusik - nachhaltig. Weitere Streicher- und Orchesterarrangements folgten, um nur die Songs „Eleanor Rigby", „She's Leavin Home", „A Day In The Life" und „I Am The Walrus" zu nennen. Das heißt: die Fab Four haben mit Unterstützung des „fünften Beatle", des Produzenten und Arrangeurs George Martin, den orchestralen (Klang-)Weg schon vorgegeben, den das Beatles Revival Orchestra nur konsequent weiterzugehen brauchte. Doch die Neubearbeitungen von Fritz Heieck gehen noch einen Schritt weiter - und zwar in Richtung Neu- und Umdeutung der Songvorlagen durch eine Neuordnung und -gewichtung der Instrumentierung: so übergibt er z.B. im Song „A Hard Day's Night" die wichtige rhythmische Funktion an die Streicher, die mit präzisem Stakkato eine „konzertante" Rhythmisierung erzeugen, wie sie von Schlagzeug, E-Bass und Rhythmusgitarre niemals hörbar gemacht werden könnte. Die klangprägenden Gitarren-Riffs in Songs wie „I Feel Fine" und „She Loves You" lässt er von Holzbläsern spielen und die psychedelischen Sounds im Song „Lucy In The Sky With Diamonds" werden orchestral umgesetzt und kammermusikalisch veredelt, wobei zusätzlich Gastsängerin Kati Karney mit engelsgleicher Stimme die Diamanten am Himmel funkeln lässt. Und die Beatles Revival Band, die sich die musikalische Federführung mit dem Orchester teilt, tut das, was sie seit über 30 Jahren macht und was sie kann, wie kaum eine andere Band: das klanglich-musikalische Erbe der Beatles kompetent und im besten Sinne traditionsbewusst zu bewahren. Und wenn die Band loslegt, dann ist sie in ihren besten Momenten auch vom mächtigen Orchesterklang nicht zu dominieren.

Paul McCartney dürfte mit den Orchester-Arrangements von Fritz und dem BRO sehr zufrieden sein. Und John Lennon? War er nicht bekannt dafür, ein überzeugter Pomp- und Pathos-Hasser zu sein? Und hielt er es nicht mit Chuck Berry's despektierlicher Klassik-Verspottung: „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news"? Aber war es nicht auch der gleiche John Lennon, der George Martin aufforderte, er solle zum Lennon-Schlaflied „Good Night" ein Streicher-Arrangement im Klischee-Stil Hollywoods schreiben, was der Beatles-Produzent dann auch auf gekonnte Weise zu Gehör brachte: die unerträgliche Seichtigkeit des Scheins. Auch Fritz Heiecks Arrangements für das BRO nutzen die Effektmöglichkeiten, die klangliche Grandezza und emotionale Bandbreite eines sinfonischen Klangkörpers. Doch zu den typischen Orchester-Klischees von Kitsch und Pathos hält er stets ausreichend Abstand. Und das hätte wohl auch einem John Lennon gefallen.

Die Musik der Beatles ist heute längst die Klassik der Gegenwart. Was zu beweisen war. Und das ist in dieser Produktion trefflich gelungen.

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Mutter Marias weise Worte

Anmerkungen zum Song „Let It Be"                  VR 12.04.10

Artikel für das Rock-Magazin „eclipsed", Ausgabe Mai 2010, zum 40-jährigen Jubiläum der Veröffentlichung des Songs „Let It Be", Titelstück des letzten Beatles-Albums, das am 8. Mai 1970 erschien. (Die Single „Let It Be" kam bereits am 6. März 1970 auf den Markt. Die Aufnahmen des Songs „Let It Be" begannen am 31.01.1969; die letzten Overdubs fanden am 04.01.1970 statt)

„Lato B" (zu deutsch „B-Seite") - so lautet verballhornt eine exotische Coverversion von „Let It Be", eine a-cappella-Ulknummer der italienischen Band Powerillusi. Paul McCartney's finale Hymne "Let It Be", als letzte Single der Beatles in Europa am 6. März 1970 veröffentlicht, wurde oft gecovert und in viele Sprachen übersetzt.

Würde man „Let It Be" mit „Lass es sein" übersetzen - was oft geschieht - dann wäre das eine Übersetzung im Stile des Heinrich Lübke-Englisch á la „Equal goes it loose" - Gleich geht es los. Oder: „Do You Want To Know A Secret" - Wills du ein Sekret kennen lernen? Richtig übersetzt bedeutet „Let It Be" - wie wir natürlich alle wissen - „Lass es geschehen". Ende 1968, als die Stimmung in der Band einen Tiefpunkt erreichte, schrieb sich Paul McCartney mit diesem Song den Frust von der Seele. Er litt damals ganz besonders unter dem drohenden Ende der Beatles, kämpfte mit Schlafstörungen und war tief verunsichert. In seiner dunkelsten Stunde hatte er eine Vision. Seine Mutter Mary, die an Krebs starb, als er 14 war, erschien ihm im Traum und tröstete ihn mit den Worten „Let It Be - Lass es geschehen".

Der Refrain klang im Nachhinein wie ein melancholischer Abgesang auf die große Ära der Beatles und konnte ebenso verstanden werden als endgültiger Abschied von den 60er Jahren und ihren großen Idealen und Hoffnungen. Doch bevor all die neuen Lebensentwürfe der Sixties scheitern, bevor die überschwänglichen Pläne der Gegenkultur „in my darkest hour" resignativ untergehen, gibt es doch noch einen hoffnungsvollen Lichtstreif am Horizont: „there is still a light that shines on me, ..., let it be." Mutter Marias Worte der Weisheit wurden damals von vielen als quasi-religiöse Botschaft verstanden. Die „katholische Scheinheiligkeit", die John Lennon in Pauls Text heraushörte, fand ihre musikalische Entsprechung in kirchenmusik-ähnlichen Vorhaltakkorden, dem Klang einer sakralen Orgel und der Anmutung eines modernen Gospel. Johns Aversion gegenüber der scheinbar himmlischen Botschaft des Textes drückte sich in seinem spöttischen Spruch unmittelbar vor Beginn des Songs aus. Mit Kinderstimme flachste er: „and now we'd like to do ‘Hark, the Angels come'."

Für alle Beatles-Fans, die nach der Trennung ihrer Helden todtraurig die Köpfe hängen ließen, war „Let It Be" wie ein tröstendes, aufmunterndes Schulterklopfen. Letztlich sind die „weisen Worte" „Let It Be" eine Mischung aus Alltagsphilosophie, Lebenshilfe und Plattitüde - und damit Pop im reinsten Sinne. Lassen wir's geschehen - und lassen wir's dann auch gut sein.

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Das Walross, Ahnherr des Artrock?

Thema: Die Beatles und die Entwicklung des Progressive/Artrock

Artikel für das Rock Magazin „eclipsed", Ausgabe September 2009 (VR 09.07.09)

Die furiose künstlerische Entwicklung der Beatles in den Jahren 1965 bis '68, die atemberaubenden Innovationen klanglicher und musikthematischer Art, vor allem in ihren Alben Revolver, Sgt. Pepper und Magical Mystery Tour, weckten und förderten das wachsende Interesse an artifizieller Popkultur und führten fast zwangsläufig zur Etablierung neuer, experimentierfreudiger und künstlerisch anspruchsvoller Popmusikformen. Die Beatles und niemand sonst gelten zu recht als Ahnherren des Art-Pop. Ohne die genialische Klangfantasie und wagemutige Kreativität von Lennon/McCartney & Co hätten sich wahrscheinlich Neutöner-Bands wie Pink Floyd oder King Crimson, die beide selbst eine Art Nukleus einer Stil- und Sound-Explosion bildeten, nicht im bekannten Ausmaß entfalten können.

Alles begann mit dem Wetteifer zweier begabter, ehrgeiziger Jungspunde. Die kreative Rivalität zwischen den Freunden und künstlerischen Konkurrenten John Lennon und Paul McCartney setzte schöpferisch-gestalterische Energien frei, die alles bisher Dagewesene über den Haufen werfen und Form und Inhalt der Popmusik völlig verändern sollten.

Förderlich für die stetige Weiterentwicklung der Beatles-Musik waren bestimmte Eigenarten der beiden Anführer: Pauls Hang zu Perfektionismus, seine ausgeprägte Neugier und seine Abneigung gegenüber Wiederholungen - und auf der anderen Seite: Johns fatale Ungeduld und seine starke Neigung zu außergewöhnlichen Experimenten und „spinnerten" Ideen, die noch verstärkt wurden durch seine Bewunderung für seine große Liebe, die Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, die seine Kreativität ungemein beflügelte - mitunter bis ins Extreme, Abstruse. Auf jeden Fall wurde Lennons Eigensinn und seine Freude an unüblichen und komplexeren Ausdrucksformen durch Yoko Onos Einfluss befördert. Und dann war da noch der Dritte im Bunde, der die Außenseiterrolle, als Songschreiber nur dritte Wahl zu sein, allmählich leid war. Die allmählich sich steigernde künstlerische Entwicklung von George Harrison erhöhte das musikalische Potenzial im kreativen Spannungsfeld der Beatles.

Den Startschuss für die Entwicklung des Art-Pop und aller verwandter progressiver Stilrichtungen lieferte Revolver, das erste psychedelische Album der Beatles vom August 1966. Vor allem der Schlusstitel Tomorrow Never Knows kann mit seiner geradezu revolutionären Klanggestalt als Initialzündung angesehen werden für die Soundexperimente des ab 1967/68 sich herausbildenden progressiven Art-Rock. Phil Collins coverte Tomorrow Never Knows für sein erstes Solo-Album Face Value von 1981. Als 13-jähriger war Phil Collins übrigens im ersten Beatles-Film A Hard Days Night als einer von Hunderten kreischender Teenies zu sehen (während der TV-Konzert-Sequenz). Die frühen Genesis waren konzeptionell und kompositorisch stark von den späten Beatles-Alben beeinflusst, coverten aber nie einen Beatles-Song. Peter Gabriel interpretierte den genialen Lennon-Song Strawberry Fields Forever in seiner frühen Solo-Ära.

Die Mellotron-Klänge von Strawberry Fields Forever wurden von Moody Blues und Ten CC kopiert, inspirierten aber auch King Crimson, die von Kritikern als „The next Beatles" gefeiert wurden, weil deren Debütalbum In The Court Of The Crimson King, veröffentlicht im Oktober 1969, mit seinen Sgt-Pepper-ähnlichen Soundcollagen als Fortschreibung der Beatles-Kunstwerke verstanden wurde.

Nicht nur aus Musikerkreisen von King Crimson, auch von vielen späteren Art- und Prog-Rockern ist darüberhinaus der fantastische Beatles-Klangtrip I Am The Walrus als entscheidender Einfluss genannt worden. Von Frank Zappa gibt es eine kongeniale Walrus-Fassung, live eingespielt auf seiner letzten Tour 1988. Das kakophonische Crescendo von A Day In The Life eröffnete vielen progressiv eingestellten Musikern eine neue Klangwelt. Danach schien im Pop alles möglich. Und mit der revolutionären Sound-Collage Revolution 9 aus dem Weißen Album waren die letzten Grenzen zur Avantgarde gefallen.

Die Premium-Band des Art Rock Gentle Giant bezog Inspiration für ihre vertrackten Chorarrangements und komplexen Rhythmus-Strukturen aus Beatles-Klassikern wie Happiness Is A Warm Gun, Here Comes The Sun u.a., wie die Shulman-Brüder in einem hr-Interview erzählten.

Die Artrock-Pioniere Yes überraschten in ihrem Debütalbum von 1969 mit einer ebenso verfremdeten wie veredelten Neufassung des eher banalen frühen Beatles-Songs Every Little Thing - eine aufschlussreiche Demonstration, wie sich Beatles-Elemente im Stil des Artrock verarbeiten lassen. Ganz ähnlich klingt auch so manche beatle-eske Artrock-Komposition jüngeren Datums, etwa von Porcupine Tree, der britischen Progrock-Band um Mastermind Steven Wilson, der ebenso bekennender Beatles-Fan ist wie Neal Morse, bis 2002 Kopf der US-amerikanischen Band Spock's Beard, in deren Musik Beatles-Themen fast allgegenwärtig sind. Nicht minder in den Songschöpfungen der Allstar-Band des Prog TransAtlantic, die u. a. von Neal Morse ins Leben gerufen wurde und die live regelmäßig ambitionierte Coverversionen von Beatles-Klassikern aufführt. So enthält deren Album Live In America großartige Interpretationen von Magical Mystery Tour und Strawberry Fields Forever. Für die DVD Live in Europe wurde ein Beatles-Abbey Road-Medley eingespielt. Zur Prog-Supergroup TransAtlantic gehört auch der Sänger/Gitarrist Roine Stolt, „hauptberuflich" Kopf der schwedischen Retro-Prog-Band The Flower Kings. Es versteht sich fast von selbst, dass auch deren Stilistik am dreistimmigen Gesang und an der Kompositionstechnik der Beatles orientiert ist.

Und um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Ty Tabor, Sänger, Gitarrist und Keyboarder der US-amerikanischen Hardrock-Band King's X macht auf seinen Soloalben immer wieder hörbar, wie die Beatles heute klingen könnten, wenn sie den Lennon-Weg über Yer Blues, Come Together und I Want You - She's So Heavy weiter gegangen wären und sich in Richtung progressivem Hardrock entwickelt hätten.

Ohne die Beatles würden vielleicht manche der progressiven Bands nicht existieren, auf jeden Fall würde vieles heute anders klingen.

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Das musikalische Weißbuch der Sixties

Anmerkungen zum Album: The Beatles (White Album) (1968)

Artikel für das Rock Magazin „eclipsed", Ausgabe September 2009 (VR 30.06.09)

Die Frage, auf welcher Stufe der Qualitäts-Treppe das Weiße Album im Werke-Katalog der Beatles einzuordnen ist, beschäftigt die Beatles-Exegeten seit dem Erscheinungsdatum am 22.11.1968.

Das epochale Sgt. Pepper-Album vom Jahr zuvor, das von vielen als Zeitenwende in der Popkultur, gar als musikalisches Jahrhundertereignis hochgejubelt wurde, hatte Maßstäbe gesetzt - auch für die Beatles. Konnte ihr 17 Monate später veröffentlichtes Folgealbum, die Doppel-LP „The Beatles", nahtlos daran anknüpfen? „Für mich persönlich ist das Weiße Album das bessere geworden", gab Ringo in der „Beatles Anthology" zu Protokoll. Mit dieser Meinung stand Ringo zwar nicht alleine, aber widersprechende Stimmen waren nicht zu überhören. Wo ist das Neue, noch nicht Dagewesene, bislang Ungehörte? - fragten mit unüberhörbarer Enttäuschung all die Beatles-Anhänger, die auf neue Klangerforschungen und Themenentdeckungen in einer experimentierfreudigen Fortsetzung von „Revolver" und „Sgt. Pepper" gehofft hatten. Nein, diese Bedürfnisse bedient das Weiße Album tatsächlich nicht. Doch ist das Album deshalb eine Enttäuschung? Im Buch „The Beatles Anthology" wird Paul McCartney mit dem Ausspruch zitiert: „Man kann auch gute Musik machen, ohne sich ständig weiterzuentwickeln." Recht hat er. Die Behauptung, das Weiße Album sei rückschrittlich und biete nichts Neues, ist nicht zutreffend.

Neu sind vor allem zwei Dinge, die so bisher nie in diesem Ausmaß und in dieser Qualität auf einem Album der Beatles (oder von sonst irgendwem) festzustellen waren: zum einen das Füllhorn der Stile und Genres und zum anderen der Tonfall von Ironie und Parodie, das Augenzwinkern zwischen den Zeilen und Tönen. Die Beatles erfinden den Zitat-Pop, den Song-Eklektizismus und den Allround-Sound des Alles-geht-und-alles-passt-Zusammen. Sie stoßen die Türen nach allen Seiten auf und profilieren sich als Alleskönner und stilistische Universalisten.

Wer außer ihnen hat auf einem Album so viel zu bieten: Psychedelia, Rock 'n' Roll, Bluesrock, Hard- & Heavy Rock, Ragtime, Ska, Folk, Country, Rumba, Progressive Artrock, Singer/Songwriter-Ballade und Avantgarde? Die amerikanische Rockbibel Rolling Stone spricht von einer „Gesamtschau der Geschichte und Synthese westlicher Musik". Und John Robertson nennt das Album ganz ähnlich „eine handliche Geschichte der populären Musik seit 1920".

Erstaunlich, dass die Beatles dieses letztlich in sich stimmige und überzeugende Album überhaupt hinbekommen haben. Denn die Stimmung bei den Aufnahme-Sessions war erstaunlich oft angespannt bis gereizt, nicht selten gar vergiftet. Die bislang unschlagbare Viererkette begann sich aufzulösen. Der Grund dafür war weniger die ständige Anwesenheit und Einmischung von Yoko Ono im Studio, sondern vielmehr die zunehmende Individuierung und der wachsende Egoismus der vier Persönlichkeiten. Das Quartett, das sich von seiner Fab Four-Vergangenheit endlich befreien wollte, zerbrach in seine Einzelteile, in vier Solo-Künstler. „Nehmen Sie irgendeinen Track - es war ich und eine Begleitband, Paul und eine Begleitband. Es hat mir Spaß gemacht, aber danach sind wir auseinandergegangen." (John Lennon, zitiert nach „The Beatles Anthology")

So egozentrisch die Akteure gewesen sein mögen, so grauslich auch immer das Binnenklima in der Band sich nach außen, für die Beobachter, darstellen mochte - die vier Teilzeitfreunde/‑feinde konnten nicht ständig so furchtbar verkracht oder spinnefeind gewesen sein, wie es von allen Seiten kolportiert wurde. Sonst hätten sie letztlich nicht ein solch großartiges Endprodukt gemeinsam hinbekommen. Denn was am Ende aus der Plattenrille ertönte, das war kein Krieg der Klänge, Töne und Egos, sondern ein überzeugendes und in höchstem Maße kreatives und stimmiges Gruppenprodukt von vier Individualisten.

Der Grund für die Gitarrenlastigkeit des Albums und für die erstaunliche Häufung von folkähnlichen Songstrukturen in schlichten Arrangements ist die Tatsache, dass die meisten Songs im nordindischen Rishikesh entstanden während die Beatles im Ashram ihres neuen Gurus Maharishi Mahesh Yogi in die Technik und Philosophie der fernöstlichen Meditation eingewiesen wurden. Weil John, Paul und George nur ihre Akustikgitarren dabeihatten, deshalb waren alle kompositorischen Ideen und Songs, die in Rishikesh entstanden, naturgemäß reduziert auf die eingeschränkten musikalischen Möglichkeiten einer Wandergitarre.

Auch das in schlichtem Weiß gehaltene Albumcover mit der grafischen Reduzierung auf den Schriftzug „The Beatles" in hervorstehender Blindprägung stand im totalen Kontrast zum überbordenden Farbenrausch des detailreich collagierten Sgt. Pepper-Covers.

Das Weiße Album ist in seiner Widersprüchlichkeit und Inkonsistenz, in der bunten bis fahrigen Mischung aus (etlichen) grandiosen Firstclass-Songs und (ein paar) dürftigen, fast hingeschusterten Songs der B- und C-Kategorie, in der eklektischen Vielgestaltigkeit - exzessiv betrieben fast bis zur Beliebigkeit -, im Kontrast zwischen leisen, empfindsamen Liedern und gewaltvoll-lärmenden Verzerrer-Orgien, in all dieser Zerreißspannung, die während der gesamten Produktion in den Köpfen und Herzen der Beteiligten virulent ist, ein Abgesang auf die naive Hippie-Seligkeit des Summer Of Love. Und in seiner indifferenten Standortbestimmung ist dieses unvergleichliche Album auch ein suchender, vager Vorgriff auf ein undefiniertes Anderswerden und damit ein stimmig klingendes Pop-Zeitdokument des chaotischen, tumultuösen, aufregenden, die Welt und das Bewusstsein von ihr verändernden Jahres 1968.


- Charts: Einstieg wann?  
22. November 1968

- höchste Chartplatzierung   D /GB/USA: Platz 1

evtl. Zeitraum der Chartnotierung (= wie lange war die Platte in den Charts)
in GB stand das Album 7 Wochen lang auf Platz 1 und war insgesamt 14 Wochen in den britischen LP-Charts notiert. In den USA stand das Album 9 Wochen lang an der Spitze und wurde 155 Wochen lang in den Billboard 200 geführt.

- Studio(s): Name/Ort/
Abbey Road Studios, London und Trident Studios, London (nur: „Dear Prudence", „Martha My Dear", „Honey Pie" und „Savoy Truffle". Alle restlichen Songs wurden in den Abbey Road Studios aufgenommen)

- Zeitraum der Aufnahme: vom 30.05. bis 17.10.1968

- Name des Produzenten
George Martin, Chris Thomas, Paul McCartney (nur bei „Why Don't We Do It In The Road")

- Name des Artworkkünstlers:  Richard Hamilton

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Variationen über die Liebe

in Songs und Moderationen aus hr3-Rebell-Sendungen
(Zitate aus Sende- Manuskripten vom Mai bis August 2005)


Hier kommt bald ein neuer Inhalt